Neglect und assoziierte Störungen

Neglect und assoziierte Störungen

von: Georg Kerkhoff, Lena Schmidt

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2017

ISBN: 9783844428544

Sprache: Deutsch

114 Seiten, Download: 6122 KB

 
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Neglect und assoziierte Störungen



2 Erklärungsmodelle


2.1 Neglect


Die Erklärungsmodelle werden in diesem Buch bewusst knappgehalten, da der Hauptschwerpunkt auf der Behandlung liegt. Ausführliche Beschreibungen finden sich an anderer Stelle (Kerkhoff, 2001; Kerkhoff & Schenk, 2012; Karnath, 2012). Frühe Erklärungsmodelle haben die elementar-sensorischen Defizite in den drei Hauptmodalitäten sowie generelle kognitive Einbußen in der Genese des multimodalen Neglects betont. Es ist zweifellos richtig, dass diese häufig assoziierten Störungen den Neglect verschlimmern und einen ungünstigen Einfluss auf das Rehabilitationsergebnis haben. Da Neglect und Extinktion jedoch auch ohne diese basalen Störungen auftreten, können sie nicht als Hauptursache gelten. Die wichtigsten neueren Erklärungsansätze lassen sich vier Gruppen zuordnen (s. Übersicht in Kasten 6).

|24|Transformationstheorien

  • Handeln und Orientieren im Raum erfordert die Transformation der einströmenden sensorischen Informationen in körperzentrierte Koordinaten (augen-, kopf-, hand-, arm- und rumpfzentriert). Diese Koordinatentransformation ist bei Neglect mit einem ipsiläsionalen Fehler behaftet (Karnath, 2015). Rotation des subjektiven Raumes um die Rumpf- oder Kopfmittelachse herum im vorderen und hinteren Raum (Karnath). Translation (gleichseitige Verschiebung) des Vorder- und Rückraumes nach ipsiläsional (Vallar, 1997).

Cerebrale Imbalancetheorien

  • Neglect wird nicht nur als Folge der Schädigung einer Hirnstruktur gesehen, sondern als Folge der Imbalance zwischen der relativen Hirnaktivität in beiden Hemisphären, sowie zwischen kortikalen und subkortikalen Strukturen. Die ungeschädigte Hemisphäre ist hyperaktiv und hemmt die geschädigte Hemisphäre via Kommissurenbahnen in ihrer Funktion. Sie „behindert“ dadurch die Funktionserholung und Rehabilitation. Eine vorübergehende Hemmung der gesunden Hemisphäre (etwa durch rTMS oder tDCS) bessert die Funktionserholung der geschädigten Hemisphäre (Cazzoli et al., 2012, Koch et al., 2012).

Aufmerksamkeitstheorien

  • Übersteigerung der Orientierungsreaktion zur ipsiläsionalen Seite aufgrund der Beeinträchtigung des Aufmerksamkeitsvektors für die kontraläsionale Raumhälfte (Vektormodell nach Kinsbourne, 1993)

  • Neglect als Folge des geschädigten neuronalen Netzwerkes zur Aufmerksamkeitslenkung in beide Raumhälften; dieses Netzwerk ist überwiegend rechtshemisphärisch organisiert (Heilman & Van Den Abell, 1980)

  • als Ergebnis der Beeinträchtigung eines vorwiegend rechtshemisphärisch organisierten Zentrums zur Selektion bedeutungsvoller sensorischer Reize im Raum (kontra- und ipsiläsional) sowie zur Raumexploration (Mesulam, 1998)

  • als Unfähigkeit, Aufmerksamkeit von einem ipsiläsionalen Focus auf einen neuen kontraläsionalen Focus zu verlagern (Posner et al., 1984)

Kasten 6:Zusammenfassung aktueller Neglecttheorien (weitere Details in Kerkhoff, 2001, oder Kerkhoff & Schenk, 2012)

2.2 Extinktion


Für die Extinktion existieren zwei unterschiedliche Erklärungstheorien: sensorische (Schmidt et al., 2013b) und Aufmerksamkeitstheorien (Vallar et al., 1997). Die ersten sehen den Grund für die Extinktion in einem schwachen sensorischen Integrationsprozess, wobei die sensorischen Leistungen bei Einzelstimulation aber meist intakt sind. Aufmerksamkeitstheorien sehen die Hauptursache bei der Extinktion in limitierten Aufmerksamkeitsressourcen |25|für die Verarbeitung zweier räumlich und zeitlich distinkter Reize. Für die Behandlung der Extinktion ist die Beobachtung relevant, dass verschiedene Stimulationstechniken (s. Kap. 4, Behandlung) die Extinktionssymptomatik reduzieren, die auch bei Neglect wirken (Schmidt et al., 2013a, b). Andere Theorien sehen die Extinktion als eine milde Form des Neglects an (Satellitensymptom; Karnath, 2012).

2.3 Posturale Störungen


2.3.1 Posturale Imbalance (PI)

Die PI wird partiell nach einer einseitigen Hirnschädigung mit kontralateraler Hemiparese vorübergehend als ein normales Kompensationsphänomen gesehen. Der paretische Patient steht mit weniger Gewicht auf seinem gelähmten Bein, weil hier die Kraft und motorische Kontrolle schwächer sind. Dementsprechend zeigen Messungen der Gewichtsverteilung eine Verschiebung des Körperschwerpunktes nach ipsiläsional. Diese ist allerdings bei linksparetischen Patienten mit (Rest)Neglect deutlich ausgeprägter. Das zeigt, dass neben der Hemiparese noch andere Faktoren ausschlaggebend sind für diese Asymmetrie. Einer davon könnte die Vertikalenstörung (visuell, haptisch, postural) sein, die häufiger und schwerer nach rechts- als linkshemisphärischer Läsion auftritt und mit den ungünstigen motorischen Leistungen der rechtshemisphärisch geschädigten Patienten korreliert. Diese Störungen betreffen nicht nur die Frontalebene, sondern auch die Sagittalebene (Vor/Rück) im Raum (s. Abb. 9). Patienten mit Neglect sind hier massiv beeinträchtigt.

2.3.2 Pushersymptomatik (PS)

Es gibt zwei gegensätzliche Theorien zur Erklärung der Pushersymptomatik. Eine geht davon aus, dass Patienten mit PS eine Verrollung der „Subjektiven Posturalen Vertikalen“ zur ipsiläsionalen Seite aufweisen (Karnath, Brötz & Götz, 2001), während die „Subjektive Visuelle Vertikale“ bei diesen Patienten ungestört sei. Aus dieser Diskrepanz der beiden Sinneseindrücke zur Vertikalen könnte die aktive Orientierung zur Hemiseite entstehen.

Die andere Hypothese (Pérennou et al., 2008) findet bei der PS gleichsinnige Verrollungen der visuellen, vertikalen und posturalen Vertikalen zur kontraläsionalen Seite (d. h. alle in die gleiche Richtung). Diesem Modell zufolge besteht das Kernproblem bei der PS in einer läsionsbedingten, multimodalen Verrollung des Raumes und der inneren Referenz für die vertikale Ausrichtung des Körpers zur kontraläsionalen Seite. Das Pushen ist demnach die Folge dieser „inneren“ Verrollung des Raumes.

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Abbildung 9: Verrollung der Vertikalen in der Frontalebene (a, b) und Sagittalebene (Pitch). a: Verrollung im Uhrzeigersinn nach linksseitiger Läsion und gegen den Uhrzeigersinn nach rechtsseitiger Läsion. b: Verkippung der subjektiven visuellen Vertikalen und Horizontalen (links) sowie der subjektiven haptischen Vertikalen (rechts) entgegen dem Uhrzeigersinn in der Frontalebene bei einem Patienten mit rechtsseitiger temporoparietaler Läsion. c: Verrollung der subjektiven visuellen Vertikalen nach hinten (d. h. weg vom Beobachter; links ) sowie der subjektiven haptischen Vertikalen (rechts) nach vorn (d. h. zum Beobachter hin) in der Pitch-Ebene bei einem Patienten mit rechtsseitiger, parietotemporaler Läsion (modifiziert nach Utz et al., 2011b; Kerkhoff & Utz, 2012).

2.4 Körperbezogene Neglectsymptome


Noch vor zwei Jahrzehnten wurden körperbezogene Neglectsymptome als primär sensorische Störungen betrachtet, die gleich häufig nach links- wie rechtsseitigen Hirnläsionen auftreten. Tatsächlich sind sie aber deutlich häufiger nach rechtsseitigen Läsionen und fast immer mit einem Neglect assoziiert. Neuere Modelle gehen daher von einer übergeordneten Störung und einem gemeinsamen Störungsmechanismus aus. Dafür spricht auch die Beobachtung, dass beide Beeinträchtigungen mit den gleichen Stimulations|27|methoden behandelt werden können (s. Kap. 4, Behandlung). Das Modell der Körperwahrnehmung von Vallar et al. (1993) erklärt diese Störungen...

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